Pressekonferenz mit Wladimir Kara-Murza, Andrej Piwowarow und Ilja Jaschin
03. August 2024 | Quelle: https://www.svoboda.org/a/33061886.html | Nach bestem Wissen und Gewissen vom Allianz für ein freiheitlich-demokratisches Russland e.V. für Sie aufbereitet und übersetzt.
Die folgenden Texte beeinhalten nur ausgewählte Passagen aus der Konferenz.
18:45
Beginnt Andrei Piwowarow. Er dankt Deutschland und allen Beteiligten, die an der Vorbereitung des Gefangenenaustauschs beteiligt waren. Er erwähnt, dass viele der Gefangenen durch den Austausch vor der Aussicht auf den Tod im Gefängnis gerettet wurden.
Piwowarow:
“Man sollte die Menschen in Russland nicht mit der Politik, die sie führt, in Verbindung bringen. Viele Bürger Russlands, die vielleicht nicht sichtbar sind, sind mit ihr nicht einverstanden. Ich halte es für äußerst wichtig, dass das propagandistische Weltbild, das den Russen eingetrichtert wird – “wir sind in einer belagerten Festung, überall Feinde” – zu zerfallen beginnt. Ich möchte mich an die westlichen Länder wenden, damit sie sich den Menschen in Russland und nicht der Regierung zuwenden, ihnen die Hand reichen. Den Druck auf die Russen verringern, ihnen zum Beispiel Bildungsvisa für die jüngen Menschen ermöglichen, damit die Russen sehen, dass hier keine Feinde sind, wie ihnen jeden Tag im Fernsehen gezeigt wird, sondern Menschen wie sie selbst. Diese Schritte würden allen helfen.
Von Freunden in Russland habe ich gehört, dass man warten muss, bis sich etwas ändert. Ich denke, unsere Aufgabe ist es, nicht zu warten, sondern zu handeln und denen Hoffnung zu geben, die unter Druck stehen. Ich und alle, die jetzt in Freiheit sind, werden nicht warten, sondern alle Anstrengungen unternehmen, damit alle, die noch in Gefangenschaft sind, freikommen.”
18:55
Wladimir Kara-Mursa beginnt ebenfalls mit einem Dank an Deutschland und alle Beteiligten, die am Austausch teilgenommen haben. Er erinnerte daran, dass durch die Bemühungen unter anderem von Deutschland drei russische Gewissensgefangene freigelassen wurden: Alexander Solschenizyn, Natan Scharanski und Michail Chodorkowski.
Kara-Murza:
“In unserem Land gibt es nach den konservativsten Schätzungen mindestens Hunderte von Menschen, die ausschließlich wegen ihrer politischen Ansichten im Gefängnis sitzen, weil sie mit Putins Politik nicht einverstanden sind, weil sie gegen den Krieg in der Ukraine sind. Glauben Sie nicht der Kreml-Propaganda, dass alle Russen für Putin seien: Es gibt sehr viele oppositionelle Russen. Verwechseln Sie das Putin-Regime nicht mit Russland.”
19:00
“Für die Entscheidung über eine Begnadigung ist die Einreichung eines Gnadengesuchs erforderlich. Ilja Jaschin und ich haben kategorisch abgelehnt, irgendwelche Gesuche an Wladimir Putin zu schreiben – und dennoch sind wir hier. Artikel 61 der Verfassung verbietet ausdrücklich die Ausweisung russischer Staatsbürger von ihrem Staatsgebiet ohne deren Zustimmung. Unsere Zustimmung wurde nicht eingeholt. Man brachte uns aus den Strafvollzugsanstalten, setzte uns in ein Flugzeug und schickte uns nach Ankara.
Schließlich ist laut den Vorschriften für die Grenzüberquerung ein internationaler Reisepass erforderlich – uns wurde bis zuletzt versprochen, dass man uns diese ausstellen würde, aber wir haben sie nicht erhalten. Wir reisten nach Deutschland mit gewöhnlichen russischen Inlandspässen ein (Kara-Mursa zeigt den Pass), in denen nicht ein einziges Wort in lateinischer Schrift steht. Am Flughafen Köln/Bonn erklärte ein spezieller Dolmetscher den Grenzbeamten, was darin geschrieben steht. “Sie können weder nach dem Gesetz inhaftieren noch freilassen. Es ist ein lustiger Staat, es wird einem nicht langweilig” (Kara-Mursa zitiert die Erinnerungen des sowjetischen Dissidenten Wladimir Bukowski).”
19:05
“Als wir nach Ankara flogen, hatte jeder von uns einen “eigenen” FSB-Mitarbeiter zugeteilt bekommen. Als unser Flugzeug abhob, sagte “mein” FSB-Mitarbeiter: “Schau ruhig hin. Du wirst Deine Heimat nie wiedersehen”. Ich antwortete: “Ich weiß genau, dass wir alle unbedingt nach Russland zurückkehren werden. Der Tag wird kommen, an dem es ein freies, zivilisiertes, europäisches Land sein wird.”
Lassen Sie uns alles tun, was in unserer Macht steht, um diesen Tag näherzubringen.”
19:10
Ilja Jaschin sagt, dass Kanzler Olaf Scholz und Deutschland bei der Vorbereitung des Austauschs vor einem schwierigen ethischen Dilemma standen, als sie gefordert wurden, einen Mörder [Wadim Krassikow] im Austausch gegen anderthalb Dutzend unschuldige Menschen freizulassen. Dies könnte Wladimir Putin möglicherweise dazu motivieren, noch mehr Menschen aus politischen Gründen einzusperren.
Jaschin:
“Zu erkennen, dass man selbst in Freiheit ist, weil ein Mörder in Freiheit ist, ist emotional sehr schwer.”
Jaschin erwähnt andere politische Gefangene, die in russischen Gefängnissen bleiben: Alexej Gorinow, Igor Baryshnikov, Maria Ponomarenko und die Anwälte von Alexej Nawalny. Er sagt, dass Gorinow und Baryshnikov schwer krank sind und dass ihre Haft in russischen Gefängnissen ohne medizinische Hilfe seiner Meinung nach eine absichtliche Folter ist.
19:15
Jaschin:
“Vom ersten Tag meiner Haft an habe ich gesagt, dass ich an keinem Austausch teilnehmen werde und mich geweigert, in irgendwelche Austauschlisten aufgenommen zu werden. Ich bin ein russischer Politiker und habe immer geglaubt, dass mein Platz in Russland ist, selbst wenn das bedeutet, im Gefängnis zu sein – aber in Russland.
Ich betrachtete meine Haft als einen Kampf für mein Recht, in meinem Land zu leben und zu arbeiten. Einige Tage vor dem Austausch bot mir der Leiter der Kolonie an, ein Gnadengesuch zu schreiben, aber ich lehnte ab. Am nächsten Tag versuchte das Management des FSIN in der Region Smolensk, mich zu überzeugen. Ich sagte, dass ich niemals um Gnade bei einem Menschen [dem Präsidenten Russlands Wladimir Putin] bitten werde, den ich für einen Mörder, Tyrannen und Feind meines Landes halte. Schon in Lefortowo schrieb ich eine Erklärung an den Leiter, dass ich meine Zustimmung zur Ausweisung aus Russland nicht gebe. Meine Ausweisung ist absolut rechtswidrig.
Was am 1. August mit mir passiert ist, betrachte ich nicht als Austausch, sondern als illegale Abschiebung.
Ich werde ehrlich sagen, dass mein erster Gedanke, als ich hier ankam, war, ein Rückflugticket nach Russland zu kaufen! Aber man hat mir klar gemacht, dass, wenn ich nach Russland zurückkehre, dies alle weiteren Austausche von politischen Gefangenen ausschließen würde.
Ich weiß, dass Alexej Gorinow und Daniel Kholodny auf den Austauschlisten standen, aber im letzten Moment gestrichen wurden und weiterhin in Haft als Geiseln bleiben.”
Jaschin erklärt, dass er sich niemals mit der Rolle eines Emigranten abfinden wird und sein Leben dem Ziel widmen wird, in ein freies, friedliches und blühendes Russland zurückzukehren.
19:25
Die Fragen von Pressevertretern beginnen. Eine Journalistin des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens ZDF fragt Wladimir Kara-Mursa: Haben Sie eine Begnadigung vom Präsidenten Putin erhalten? Bedeutet das, dass Sie nach Russland zurückkehren können?
Kara-Mursa:
“Das gesetzliche Verfahren sieht tatsächlich vor, dass ein Verurteilter ein Gnadengesuch an den Präsidenten richten kann. Letzten Dienstag wurde ich aus der Zelle geholt, in ein Büro gebracht, bekam ein leeres Blatt Papier und ein Muster eines Gnadengesuchs – in dem wurde ein Schuldbekenntnis und Reue erwähnt. Ich antwortete, dass ich das nicht schreiben werde, erstens, weil ich Putin nicht als legitimen Präsidenten meines Landes ansehe, und zweitens, weil ich keine Schuld eingestehe und mich nicht als schuldig betrachte.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag weckten sie mich um drei Uhr morgens, gaben mir 20 Minuten, um meine Sachen zu packen, und brachten mich in Handschellen zum Flughafen, wo ich in ein Flugzeug nach Moskau gesetzt wurde. Weder mir noch anderen Gefangenen wurde irgendetwas erklärt; einige dachten sogar, dass wir alle zusammengebracht und erschossen werden sollten. Also habe ich um Begnadigung nicht gebeten.
Und wie ich bereits sagte, sagte der mich begleitende FSB-Offizier, dass ich niemals nach Russland zurückkehren werde – aber ich antwortete, dass ich als Historiker nicht nur glaube, sondern weiß, dass ich zurückkehren werde, und dass es dann ein freies Land sein wird.”
Journalist: Wissen Sie, wie der Prozess der Auswahl der Gefangenen für den Austausch ablief?
Kara-Mursa:
“Wir – wahrscheinlich wir drei – wissen nichts darüber. Ich war überhaupt fest davon überzeugt, dass ich im Gefängnis sterben werde und meine Frau und Kinder nie wiedersehen werde.
Ich begann erst gestern Morgen zu verstehen, was vor sich ging, als ich aus Lefortowo gebracht, in einen Bus gesetzt wurde und dort Andrei [zeigt auf Piwowarow] mit einem FSB-Mitarbeiter und dann Ilja [Jaschin] mit seinem FSB-Mitarbeiter sah. Und dann Oleg Orlov von „Memorial“, die Journalistin von Radio Swoboda Alsu Kurmasheva… Wir wussten nicht einmal, dass ein Austausch vorbereitet wird, geschweige denn, wie die Kandidaten ausgewählt wurden.
19:40
Eine Korrespondentin des russischen Dienstes der BBC fragt: Sie haben gesagt, dass Sie nach Deutschland gebracht wurden, ohne internationale Reisepässe. In welchem Status werden Sie sich in Deutschland und der EU befinden? Werden Ihnen ein Äquivalent zu Nansenpässen ausgestellt? Wird Ihnen politisches Asyl gewährt? Wie wird das rechtlich geregelt, denn Bürokratie ist ein erheblicher Teil unseres Lebens?
Jaschin (lacht):
“Das betrifft Ihre Bürokratie, nicht unsere! Wenn es politischen Willen gibt, überwindet er alle bürokratischen Hindernisse. Ich habe überhaupt kein gültiges Dokument, „Schnurrbart und Schwanz sind meine Dokumente“. Natürlich haben wir diese Frage den Vertretern des deutschen Außenministeriums gestellt – sie gaben zu, dass die Situation außergewöhnlich ist, und versprachen, sich etwas einfallen zu lassen. Was genau, wissen wir noch nicht. Jedenfalls haben sie versprochen, dass man uns nicht als illegale Einwanderer festnehmen oder abschieben wird.”
Piwowarow:
“Es ist lustig, dass jeder Verurteilte nach der Freilassung ein Entlassungspapiere haben sollte. Uns wurden sie gezeigt, aber niemandem übergeben.”
Kara-Murza:
“Einen Tag vor unserer Freilassung wurden wir für dieses Entlassungdokument fotografiert. Dann kam der Leiter der Sonderabteilung des Lefortowo-Gefängnisses und zeigte es uns.
Dort stand, dass ich, Name, verurteilt nach diesen Artikeln auf 25 Jahre, auf Grundlage des Erlasses des Präsidenten, Nummer… – keine Nummer, Leerraum! – über die Begnadigung vom… – kein Datum, Leerraum! – 2024 freigelassen werde. Freigelassen, um meinen Wohnort zu erreichen: Moskau, Owtschinnikowskaja Straße – meine Adresse.
Wie Sie sehen, befinde ich mich nicht in Moskau und nicht an der Owtschinnikowskaja Straße. Wir fragten, wann uns diese Dokumente übergeben werden – die Antwort war: „Keine Sorge, sie werden im Flugzeug übergeben.“ Das wurde nicht gemacht. Das ist wiederum eine Frage der Rechtmäßigkeit von allem, was uns allen passiert ist.
Was die erste Frage zu meinem rechtlichen Status betrifft, so habe ich hier eine etwas besondere Position unter meinen Kollegen. Erstens habe ich doppelte Staatsbürgerschaft – russische und britische. Obwohl ich auch keinen britischen Pass bei mir hatte und immer noch nicht habe, bin ich auf demselben innerstaatlichen Pass geflogen wie alle anderen. Zudem befindet sich meine Familie, meine Frau und meine Kinder, in den Vereinigten Staaten. Deshalb, wie ich bereits zu Beginn erwähnte, weiß ich, dass die US-Regierung eine große Rolle dabei gespielt hat, dass ich jetzt hier sitzen und mit Ihnen sprechen kann.
Als ich gestern vom FSB-Flugzeug am Flughafen Ankara herunterstieg, kam ein Diplomat mit einem Telefon zu mir, und der erste Anruf, den ich seit zwei Jahren und vier Monaten seit meiner Verhaftung erhielt, war ein Anruf von Präsident Biden. Ich habe ihm, so gut ich konnte – nach einem Jahr in Einzelhaft, in dem ich nicht nur Englisch, sondern sogar Russisch verlernte – für alles gedankt, was er getan hat und weiterhin tut, um unschuldige Menschen freizulassen. Er antwortete, dass für ihn als Präsident der Schutz menschlichen Lebens das Wichtigste sei.”
20:04
Der Journalist fragt nach dem körperlichen und moralischen Befinden.
Jaschin:
“Direkt nach der Ankunft in Deutschland wurden wir in ein Krankenhaus gebracht, um unseren Gesundheitszustand überprüfen zu lassen. Heute Morgen kam ein ganzes Team von Ärzten zu jedem von uns und teilte tragisch mit, dass bei uns allen ein Vitamin-D-Mangel festgestellt wurde! (lacht) Kein Wunder, denn wir haben alle lange keine Sonne gesehen, wir saßen alle in der Isolationshaft. Aber insgesamt geht es uns tatsächlich gut.
Dein körperliches Wohlbefinden im Gefängnis hängt zum großen Teil von deinem inneren emotionalen Zustand ab, davon, wie gut du psychologisch nicht zerbrichst. Keiner von uns hatte damit Probleme. Wenn du weißt, dass du auf der Seite der Wahrheit stehst, gibt dir das sehr viel Kraft. Und eine enorme Quelle der Kraft waren die Briefe von denen, die uns unterstützt haben – ich habe mich von ihnen mit Energie und Gesundheit aufgeladen.”
Piwowarow:
“Ich stimme zu. Wenn du weißt, dass du im Recht bist, gibt dir das Kraft. Du weißt, dass du im Recht bist – und dass du in die Freiheit zurückkehren wirst. Du machst sogar Sport im Gefängnis, und selbst die Bewacher und die Gefängnisverwaltung behandeln dich anders, wenn sie sehen, dass du dich tapfer hältst und nicht resignierst und Zigarrette um Zigarrette rauchst.”
Kara-Mursa:
“Ich bin es nicht gewohnt, mich zu beklagen. Aber ich halte es für notwendig zu sagen, dass viele unserer Kollegen und Landsleute weiterhin in Putins Gefängnissen und Kolonien ausschließlich wegen ihrer Überzeugungen festgehalten werden. Ihnen werden physische und moralisch-psychologische Folter angewendet.
Langfristige Einzelhaft wird von den Vereinten Nationen offiziell als Folter eingestuft. „Langfristig“ bedeutet für die UN eine Haftdauer von mehr als 15 Tagen. Ich habe 10 Monate in Einzelhaft verbracht. Dasselbe galt für Ilja und Andrei. Alexej Nawalny verbrachte Monate in Einzelhaft – in einem zwei mal drei Meter großen Schrank, ohne jegliche Kommunikation und ohne Möglichkeit, nach draußen zu gehen.
Eine weitere traditionelle Folter, die schon seit sowjetischen und stalinistischen Zeiten angewandt wird, besteht darin, nicht nur den Verhafteten selbst, sondern auch seine Familie zu quälen. In zweieinhalb Jahren konnte ich nur einmal mit meiner Familie sprechen. Man bestraft nicht nur uns, sondern auch unsere Familien absichtlich. Der Gang zur Kirche ist verboten.
Es ist eine monströse Heuchelei: Das Putin-Regime spricht von Schutz der Familie und traditionellen Werten, verbietet aber den Kontakt zu den Kindern und den Besuch von Kirchen.
Und das betrifft auch noch Hunderte unserer Landsleute, die sich derzeit in Haft befinden.
Aber ich stimme Ilja zu: Es stärkt das Bewusstsein, dass man im Recht ist und sie nicht.
Und die Briefe sind eine große Unterstützung. Ich möchte an alle in Russland und im Ausland appellieren: Schreibt Briefe an politische Gefangene. Papier- oder E-Briefe, es gibt jetzt alle Möglichkeiten dafür. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viel Licht und Wärme dieser Zettel Papier spendet, den der Wärter durch die „Futterluke“ der Zellentür reicht.”
20:25
Eine Journalistin von Radio Swoboda fragt: Die erste Frage geht an Ilja Jaschin: Auf den ersten Fotos nach der Freilassung trugen Sie eine Gefängnisrobe während die anderen Zivilkleidung trugen. Was hat das verursacht? Die zweite Frage an alle: Könnte Alexej Nawalny unter bestimmten Bedingungen an diesem Tisch sitzen?
Jaschin:
“Was die Gefängkleidung betrifft, ist der Grund banal: Ich hatte einfach keine andere Kleidung. Mir wurde nicht die Möglichkeit gegeben, meine Kleidung abzuholen, die im Lager der Kolonie aufbewahrt wurde. In dieser Gefängnisrobe wurde ich unter Bewachung aus der Kolonie gebracht, nach Lefortowo transportiert und dann ins Flugzeug gesetzt. Die Bedingungen waren unterschiedlich, manchen wurde die Möglichkeit gegeben, sich fertig zu machen und umzuziehen, mir jedoch nicht. Das ist unerheblich.
Was Alexej Nawalny betrifft, so sollte er nicht hier sein, sondern in Russland. Er sollte an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen, das Land führen, ein großartiges Russland der Zukunft aufbauen, Teil seines Volkes sein, ein langes und produktives Leben führen, seine Eltern, seine Frau und seine Kinder erfreuen. Das ist der Ort, an dem Nawalny hätte sein sollen und an dem wir alle hätten sein sollen. Dass Nawalny nicht bei uns ist, ist ein Verbrechen von Wladimir Putin, der die direkte Verantwortung für seine Ermordung trägt.”
Kara-Mursa:
“Auf den ersten Teil der Frage – als ich Ilja im Bus am Flughafen in Gefängniskleidung sah, beneidete ich ihn ein wenig: Ich wurde in Trainingshose (Unterhose) und T-Shirt freigelassen, praktisch in Unterwäsche. Denn in Lefortowo wurde mir die Gefängniskleidung abgenommen, und übrig blieben mir nur diese halben Trainingshosen-Halb-Unterhosen, ein T-Shirt und Gummischlappen, die ich im Duschen trug. Der Offizier, der die Kleidung beschlagnahmte, fragte mich, ob ich denn keine Zivilkleidung hätte. Ich antwortete: „Hören Sie, ich habe eine 25-jährige Haftstrafe, wozu brauche ich Zivilkleidung – um ins Theater zu gehen?“ Und so kam ich durch Ankara nach Bonn in “Unterhosen”, T-Shirt und Gummilatschen. Dank an die Kollegen, die mir hier schon normale Hosen und ein Hemd gegeben haben. Tatsächlich waren alle unterschiedlich gekleidet, und erst jetzt sehen wir einigermaßen ordentlich aus.
Und jetzt etwas Ernstes, was Alexej betrifft. Was mit Nawalny passiert ist, zeigt meiner Meinung nach eindeutig und erschreckend, dass das, was die Medien „Austausch von Gefangenen“ nennen, kein Austausch ist, sondern das Retten menschlicher Leben.
Es fällt mir schwer, nicht darüber nachzudenken, dass, wenn einige Prozesse schneller abgelaufen wären, wenn dieses Verständnis – auch hier in Deutschland – klarer gewesen wäre, wenn die Regierung Scholz weniger Widerstand bei der Freilassung des Putin-Killers Krasikow überwinden hätte müssen, vielleicht Alexej noch leben und in Freiheit sein könnte.
Es ist sehr wichtig, dass das klar gesagt wird: Wladimir Putin trägt die persönliche Verantwortung für die Ermordung von Alexej Nawalny – ebenso wie für die Ermordung von Boris Nemzow.
Es ist wichtig zu verstehen, dass in Russland nicht nur ein diktatorisches Regime an der Macht ist, sondern ein Regime von Mördern, das von einem Mörder geführt wird.
Als gläubiger Mensch weiß ich, dass Putin nach dem Tod vor dem höchsten Gericht für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird. Aber ich würde mir sehr wünschen, dass er sich auch vor einem gewöhnlichen Gericht verantworten muss.”
20:40
Journalist von Deutsche Welle: Erzählen Sie uns, wie Sie Ihre politische Tätigkeit in Zukunft fortsetzen wollen.
Piwowarow:
“Während meiner Haft habe ich Diskussionen in der Emigrantenumgebung verfolgt. Ich war etwas irritiert von der These, dass man „abwarten“ sollte. Diese erscheint mir politisch falsch.
In Russland befinden sich viele Menschen unter Druck und sind nicht bereit, Risiken einzugehen. Wenn wir ihnen die Möglichkeit geben können, ihre Position in dem Maße zu äußern, wie es ihnen möglich ist, wäre das ein großer Fortschritt.
Es ist auch wichtig, den Russen zu zeigen, dass der Westen nicht der Feind ist, wie es die Kreml-Propaganda ihnen einredet. Der Westen ist im Gegenteil daran interessiert, ein wohlhabendes, freies Russland zu sehen, einschließlich des Wohlstands seiner Bürger.”
Jaschin:
“Wir werden alle weiterhin politisch aktiv bleiben. Und übrigens, wir sind uns der Risiken bewusst. Schon im Flugzeug nach Ankara machte einer der uns begleitenden FSB-Beamten einen Scherz: „Macht euch nicht allzu große Hoffnungen, Krassikow könnte vielleicht zurückkommen, um euch zu holen.“
Aber wir werden natürlich alles in unserer Macht Stehende tun, um Putin von der Macht zu entfernen und eine freie, friedliche, demokratische Russland aufzubauen.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie man aus dem Ausland heraus Politik macht. Aber ich werde lernen. Ich werde mich mit Menschen treffen, die uns unterstützen, und möchte mit ihnen sprechen. Und natürlich werde ich alles tun, um den Menschen, die in Russland bleiben, von Nutzen zu sein.”
Kara-Mursa stimmt der Meinung von Piwowarow zu, dass die Sanktionen der demokratischen Länder gezielt gegen das Putin-Regime und konkrete Personen gerichtet sein sollten, die für die Anheizung und Unterstützung des Krieges in der Ukraine verantwortlich sind, und nicht gegen die russische Bevölkerung im Allgemeinen.
Er ist auch der Ansicht, dass es bereits jetzt notwendig ist, das Bild eines zukünftigen demokratischen Russlands zu entwickeln, das das derzeitige Regime ablösen könnte, und die westlichen Länder auf den Aufbau friedlicher und produktiver Beziehungen zu diesem Russland vorzubereiten.
21:00
Der Journalist fragt Kara-Mursa nach seinem Gesundheitszustand und wie er dazu steht, dass er und andere Gefangene gegen den Mörder Vadim Krassikow ausgetauscht wurden.
Kara-Mursa:
“Zu Ihrer ersten Frage – ich habe bereits gesagt, dass ich es nicht gewohnt bin, mich zu beklagen. Mein Gesundheitszustand ist, soweit es möglich ist, in Ordnung. Ein Gefängnisarzt sagte mir, dass mir noch ein Jahr bis anderthalb Jahre zu leben bleiben – das war vor über einem Jahr, und wie Sie sehen, hätte ich bereits tot sein müssen. Meine Gesundheitsprobleme sind die Folge von zwei Vergiftungsversuchen, die von demselben FSB-Team organisiert wurden, das Alexej Nawalny und andere russische Oppositionelle vergiftet hat. Die Aktivitäten dieses Teams wurden ausführlich von Bellingcat unter der Leitung von Christo Grozev aufgedeckt.
Zu Ihrer zweiten Frage beantworte ich wie bereits gesagt – Das ist kein Austausch, sondern eine Lebensrettungsaktion. Ich weiß, dass viele die deutsche Regierung dafür kritisieren, dass sie dem Freispruch des Mörders Krassikow zugestimmt hat, und das war keine einfache Entscheidung.
Aber einfache Entscheidungen gibt es nur in Diktaturen. Der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie besteht darin, dass in einer Demokratie das menschliche Leben den höchsten Wert hat. Gestern wurden 16 Menschenleben gerettet. Nichts ist wichtiger.”
21:15
Journalistin von „Mediazona“: Frage an Wladimir Kara-Mursa: Wie sind die Bedingungen in den Gefängniskrankenhäusern? Sind sie tatsächlich schlechter als die der Gefängnisse selbst?
Kara-Mursa:
Während meiner Zeit hinter Gittern war ich in 13 verschiedenen Strafanstalten. Das schlimmste Regime herrschte in der Lagerkrankenstation in Omsk. Obwohl ich auch im Krankenhaus in einem speziellen Isolationsregime war, in genau derselben leeren Einzelzelle mit einem an die Wand befestigten Bett, und der einzige Unterschied darin bestand, dass ich gelegentlich für medizinische Untersuchungen herausgebracht wurde, die ebenfalls nicht gerade erfreulich waren. Von einem Krankenhaus war dort nur der Name. Es war dieselbe Isolierung, das Verweilen in einem kleinen Raum, keine Möglichkeit, nach draußen zu gehen oder sich zu unterhalten, Hände hinter dem Rücken, Durchsuchungen alle 50 Meter.”
21:25
Die Journalistin fragt, was getan werden kann, um die Freilassung der verbleibenden politischen Gefangenen in Russland zu erreichen.
Jaschin:
“Nach Schätzungen von „Memorial“ gibt es derzeit in Russland etwas mehr als tausend politische Gefangene. Tatsächlich sind es weit mehr, viele von ihnen sind völlig unbekannte Personen, die außerhalb der Öffentlichkeit stehen. Sie sitzen wegen harmloser Dinge wie einem „Gefällt mir“ im Internet oder wegen eines Telefonats, das jemand gemeldet hat. Niemand weiß von ihnen.
Das wichtigste Ereignis, das zur Freilassung der politischen Gefangenen führen sollte, ist eine Amnestie. Keine selektiven Austauschaktionen, bei denen einzelne Personen gegen Spione getauscht werden. Wir müssen eine Amnestie für bestimmte Straftatbestände und nicht für einzelne Personen fordern. Alle Menschen, die wegen meiner Anklage verurteilt zurden, sollten freikommen. Diese Forderung muss an Wladimir Putin auf höchster Ebene gerichtet werden, nicht nur von der Opposition.
Die einzige Möglichkeit, die Situation aus der Sackgasse zu bewegen, ist das Ende des Krieges in der Ukraine. Ich weiß nicht einmal, welches der beiden Forderungen wichtiger ist, aber die wichtigste Forderung ist das Ende des verbrecherischen, aggressiven Krieges in der Ukraine. Ein Krieg, der Blut, Zerstörung und Tod in die Ukraine gebracht hat, aber gleichzeitig auch unser Land zerstört und eine große Anzahl unschuldiger Menschen hinter Gitter gebracht hat. Der Krieg muss enden, und dann sollten neben den offensichtlichen Friedensfragen auch die Fragen der Freiheit aufgeworfen werden – die Freiheit der Menschen, die unschuldig hinter Gittern sitzen, nur wegen ihrer Worte oder wegen ihrer Forderung, den Krieg zu beenden.”
Korrespondentin von Radio Swoboda, Darja Sacharowa, stellte eine Frage an Andrej Pivovarov.
Darja Sacharowa: Sie haben die Notwendigkeit angesprochen, die Beziehungen zwischen Russland und der EU wiederherzustellen. Meinen Sie damit die aktuelalen Bemühungen einiger EU-Länder, den Druck auf Russland zu erhöhen?
Andrej Pivovarov:
“Ich habe viel mit den Gefangenen und dem Personal in der Kolonie gesprochen. Sie glauben, dass alle sie [Russland und die Russen] hassen. Wenn wir ihnen, sagen wir mal, zeigen könnten, dass das nicht der Fall ist, indem wir zum Beispiel einige Sanktionen aufheben, die insbesondere die Jugend betreffen, und eine offene Hand zeigen. Wenn die Russen nicht nur die Verbote westlicher Länder sehen, die demokratische Werte vertreten, wäre das ein großer Schritt nach vorne, denn das Gefühl der Russen, in einem Ring von Feinden gefangen zu sein, ist total. Das kommt aus dem Fernsehen. Es gibt banale Einschränkungen. Jemand kann zum Beispiel nicht in bestimmte europäische Länder zum Studium fahren – es ist klar, dass es sich dabei nicht um einen Radikalen handelt, der dort studieren möchte. Oder jemand will sich ein Gerät aus dem Ausland bestellen. Wenn die längst bekannten Reisebeschränkungen für Autos verboten werden. Verstehen Sie, Lawrow wird nicht [in die EU] mit dem Auto fahren, sondern ein normaler Mensch. Geben Sie ihm diese Möglichkeit. Das würde die Offenheit der Welt zeigen. Es sollten Talente-Visa für begabte Jugendliche geben. Einschränkungen beim Kauf, wenn jemand sich zum Beispiel keinen guten Mähdrescher kaufen kann, sind unnötige Einschränkungen. Ich würde auch darüber nachdenken, Überweisungen zu erlauben, da dies das Leben vieler Menschen erheblich erleichtern würde und für die Wirtschaft einen Vorteil bringen könnte.”
Alle Inhalte wurden nach bestem Wissen und Gewissen vom Allianz für ein freiheitlich-demokratisches Russland e.V. für Sie aufbereitet und falls nötig übersetzt.